„Bürgerbeteiligung“ ist derzeit in aller Munde – nicht nur in Baden-Württemberg. Die Auseinandersetzungen um Stuttgart 21 und der Regierungswechsel 2011 haben dem Thema Konjunktur verschafft. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Hintergrund dieser Debatte liefert Paul-Stefan Roß mit seinem Buch „Demokratie weiter denken“.
Dr. Paul-Stefan Ross, Sie sind Professor an der Dualen Hochschule für Soziale Arbeit in Stuttgart und haben ihr letzte Veröffentlichung „Demokratie weiter denken“ genannt. In welche Richtung sollte sich Ihrer Meinung nach Demokratie weiter denken und entwickeln? Was steckt alles hinter dem Titel Ihres Buches?
Wenn in den vergangenen Jahren in Deutschland von „Demokratie“ gesprochen wurde, dann dachten die meisten dabei an regelmäßige Wahlen, für die Parteien KandidatInnen aufstellen, die dann als RepräsentantInnen des Volkes in ein (Kommunal-, Landes-, Bundes- oder Europa-) Parlament gewählt werden und dort in Abstimmungen Mehrheitsentscheidungen treffen. Dieser „repräsentative, parteiendominierte Parlamentarismus“ (so ein Fachausdruck aus der Politikwissenschaft) hat die westlichen Staaten über Jahrzehnte geprägt. Jedoch kommt das Modell sichtbar an Grenzen seiner Leistungsfähigkeit und seiner Überzeugungskraft: Immer weniger Menschen gehen zu Wahlen, immer mehr fühlen sich durch die gewählten RepräsentantInnen nicht mehr repräsentiert, viele sprechen genervt von „Parteienklüngel“ und wenden sich ab.
Was bedeutet in diesem Zusammenhang genau „weiterentwickeln“?
Es deutet vieles darauf hin, dass die geschichtliche Entwicklung der Demokratie mit dem Modell der repräsentativen Parteiendemokratie keineswegs am Ende ihrer Möglichkeiten angekommen ist. Die Gründung einer Initiative für die Gestaltung eines Spielplatzes, die Entwicklung kommunaler Standards für Bürgerbeteiligung, die Entwicklung eines Modells der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in einer Kommune und die Auseinandersetzungen um Stuttgart 21 (um nur einige Beispiele zu nennen) haben etwas gemeinsam: Sie lassen sich interpretieren als das Ringen um eine weitere Entwicklungsstufe von Demokratie.
Wie wird oder soll Demokratie sich weiterentwickeln?
Die Bedeutung direkter Demokratie wird zunehmen; also die Bedeutung von Abstimmungen, in denen die BürgerInnen selbst direkt – und nicht auf dem Umweg über gewählte RepräsentantInnen – über bestimmte Sachfragen entscheiden. Der große Vorteil: Hier liegt die Entscheidungsmacht tatsächlich bei den BürgerInnen selbst. Sie können ein Gegengewicht bilden gegenüber den gewählten MandatsträgerInnen und verhindern, dass diese sich zu weit vom „Volk“ entfernen. Allerdings, und dies sind Nachteile, müssen bei Bürgerentscheiden die Fragestellungen oft sehr stark zugespitzt werden („Ja/Nein“), und nicht selten kommt es zu einer Polarisierung innerhalb der Bürgerschaft. Daher ist ein höherer Stellenwert direkt-demokratischer Verfahren nicht die einzige sinnvolle Weiterentwicklung von Demokratie: Zugleich wird die Bedeutung „kooperativer Demokratie“ zunehmen.
Was bedeutet kooperative Demokratie?
Gemeint sind Formen der Meinungs- und Willensbildung, die darauf setzen, das verschiedene Beteiligte in einem direkten Dialog auf Augenhöhe gemeinsam Lösungen für bestimmte Fragestellungen entwickeln. Dahinter steht die Überzeugung, dass tragfähige Lösungen ehr gefunden werden, wenn ein Konsens bzw. ein Kompromiss erzielt wird, als wenn sich eine Position durch Mehrheitsabstimmung gegenüber einer anderen durchsetzt. Solche kooperativ-demokratischen Beteiligungsverfahren gibt es in einer großen Vielzahl: Runde Tische, Zukunftswerkstätten, Planing for Real, Open-Space-Konferenzen, Planungszellen, Bürger-Räte usw. sind nur einige Beispiele. Jedes dieser Methodenkonzepte hat bestimmte Stärken, aber auch charakteristische Schwächen. Insgesamt liegen die Nachteile kooperativ-demokratischer Verfahren darin, dass an ihnen nur ein kleiner Ausschnitt der Bürgerschaft teilnimmt, und zwar in der Regel Menschen, die gesellschaftlich gut integriert sind.
Wie wird die Demokratie der Zukunft aussehen?
Demokratie wird also bunter und vielfältiger werden, wird noch andere, stärker verhandlungsorientiert ausgerichtete Formen kennen, als allein Wahlen und Abstimmungen. Einen Fortschritt kann man sich von dieser Erweiterung dann versprechen, wenn die gerade angesprochenen verschiedenen Formen demokratischer Teilhabe nicht gegeneinander ausgespielt, sondern mit einander verknüpft werden. So bleibt es z.B. der entscheidende Vorzug repräsentativ-demokratischer Verfahren, dass sie grundsätzlich allen Stimmberechtigten offen stehen und so die Breite der unterschiedlichen Meinungen in einer Gesellschaft abbilden können. Die Aufgabe auf der „Baustelle Demokratie“ lautet, repräsentativ-, direkt- und kooperativ-demokratische Verfahren so zu kombinieren, dass die die jeweiligen Schwächen wechselseitig ausgeglichen werden und die Stärken optimal zum Tragen kommen. Es bleibt also spannend!
Das Interview führte Udo Wenzl
Mehr dazu ist im Buch von Paul-Stefan roß zu finden, veröffentlicht im NOMOS – Verlag, 2012, 632 S., Broschiert, ISBN 978-3-8329-6470-2, 49.– €