Jürgen Ertelt: Online-Beteiligung ist eine neue Qualität

Jürgen Ertelt ist Sozial- und Medienpädagoge und ausgewiesener Experte für ePartizipation. Für das Partizipationsblog analysiert er im Interview die Potentiale und Barrieren heutiger Formen der digitalen Bürgerbeteiligung. 

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Herr Ertelt, Sie sind Experte für Bürgerbeteiligung. Was ist der Gewinn dabei, Bürgerinnen und Bürger mitreden zu lassen?

Die repräsentative Demokratie bekommt eine Erweiterung durch mehr Bürgerbeteiligung. ParlamentarierInnen können mit verbessertem Hintergrund ihre Entscheidungen abwägen, Verwaltungen erhalten früh Signale über mögliche Problemlagen und die BürgerInnen haben im besten Fall ihre Interessen auch zwischen den Wahlgängen einbringen und zu ihren VertreterInnen adressieren können. Allerdings ist nicht jede Beteiligung von BürgerInnen eine sprichwörtliche Bürgerbeteiligung.

In Ihrer Arbeit entwickeln Sie vielfältige Modelle der e-Partizipation. Welche Kriterien muss ein solches Partizipationsmodell Ihres Erachtens erfüllen, damit produktive und echte Beteiligung entsteht?

Online-Beteiligung ist m.E. eine neue Qualität zur Erreichung von gesellschaftlicher Partizipation. Neben den Merkmalen für gelingende offline-Partizipation sind weiterreichende online-Bedingungen für gelingende Partizipation zu beachten.

Verkürzt lassen sich fünf Kriterien herausstellen:

  • Es muss einen Grund geben
  • Es gibt einen politischen Willen für „echte“ Beteiligung
  • Das Verfahren ist transparent nachvollziehbar und Inhalte bleiben dokumentiert
  • Information werden zur Meinungsfindung in verständlicher Form bereitgestellt (open data – Visualisierungen)
  • Es gibt eine im Voraus festgelegte Wirksamkeit des Prozesses ( z.B., dass die Eingaben im Rat behandelt werden)

Ist Liquid Feedback, wie es die Piratenpartei und der Landkreis Friesland für die Bürgerbeteiligung nutzen, ein Modell, das diese Kriterien erfüllt?

Eine Software alleine kann Gelingensbedingungen nicht bespielen, es ist eine Frage des gesamten Settings, der Rahmung des angelegten Verfahrens und der Dramaturgie des Prozesses. Liquid Feedback ist eine Interpretation des Liquid Democracy – Modells. Damit Demokratie aber tatsächlich im Fluss bleibt, braucht es verschiedene Werkzeuge, die modular miteinander kombiniert werden können. Ich bin mehr von den flexiblen Möglichkeiten der Softwarebasis „Adhocracy“ überzeugt, die auch Grundlage des von mir begleiteten Jugendangebots  ypart.eu ist.

Wie gelingt es Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger davon zu überzeugen, dass online-Kommunikation nicht „virtuell“ ist, sondern vergleichbar mit einem persönlichen Dialog?

Ich sehe, dass mittlerweile die Bedeutung von social media auf allen Etagen angekommen ist. Tatsächlich ist die dennoch verbreitete real-virtuell – Trennung zu überwinden. Es bedarf konkret stattfindender Beispiele, die Wirkung zeigen, und eine qualifizierende Übersetzungsleistung von Erklärbären, die „das Internet“ als Lebensraum-Teilmenge zeichnen.

Wie funktioniert das Zusammenspiel von sehr schneller Aktion und Reaktion im Netz und der Langsamkeit von politischen Entscheidungs- und Verwaltungsprozessen?

Zu jedem angelegten Beteiligungsverfahren gehört eine Zeitleiste der Meilensteine und Prozess-Stationen. Auch online braucht es Bedenkzeit und Raum für längere Diskussionen und vielfältige Ideen-Sammlungen. Vieles ist von den angelegten Themen abhängig, – Liegenschaftsplanungen und Verkehrsanliegen z.B. brauchen einen sehr langen Atem. Es ist Aufgabe der Informationsbereitstellung diese Faktoren ungeschminkt darzulegen. Zur Verbesserung des Zusammenwirkens sind Online-Verfahren besonders geeignet, wenn sie dem Erfolgskriterium Transparenz entsprechen und eine nachvollziehbare Dokumentation auffindbar archivieren.

Wer sind die Teilnehmenden von e-Partizipation? – Welche Zielgruppen können gut erreicht werden und welche nicht?

Es gibt die Vermutung, dass denen die präsent sind, noch mehr gegeben wird. Beteiligungsprozesse müssen stets von einer intensiven Öffentlichkeitsarbeit begleitet werden um breit zu streuen. Am besten wirken virale Effekte in social networks. Immer brauchen wir Begeisterung weckende Animateure, die als Überzeugungstäter auch verhaltensoriginelle und benachteiligt gehaltene Menschen bewegen können – online und offline.

Wie hoch ist der Aufwand, um sich im Netz zu beteiligen? Werden e-Partizipationsverfahren dominiert von Menschen, die den ganzen Tag online sind und zu viel Zeit haben?

Die Kritik der Bevorzugung sog. Zeitreichen bei ePartizipation ist entgegenzusetzen, dass der Besuch einer analogen Rathaus-Versammlung oder des Partei-Stammtisches im Gasthof mindestens ein ähnliches Zeitbudget für Engagement verlangt. Vorteil der Online-Beteiligung ist hier die Möglichkeit, unabhängig von Raum- und Zeit – Terminierung punktuell nach meinen Interessen einzubringen. Erfolgsgrundlage dafür ist ein niederschwelliges Angebot mit geschmeidigen Benutzungsoptionen bei gleichzeitig lückenlosem Archiv.

Wenn im Netz Abstimmungsverfahren geplant sind, wie können diese dann betrugssicher durchgeführt werden?

Ich bin ein Verfechter für pseudonyme und datenarme Zugangsmöglichkeiten bei Beteiligungsverfahren. Es geht um die Ermittlung von Interessen-Tendenzen und nicht um Wahlentscheidungen;  Manipulationsversuche werden schnell vom social media – Schwarm enttarnt. Streuungen der Teilnehmenden über die adressierte Region hinaus können dabei produktiv sein: Menschen leben heute mobil in einem fragmentierten Lebensalltag, der bei Schule, Arbeit und Soziales unterschiedliche „Gebietskörperschaften“ quert und „Heimat“ nicht an die Ausweis-Adresse festmacht. Und, jede gute Idee –egal woher – ist hilfreich für ein verbessertes Ergebnis.

Abstimmungen im Rahmen von Bürgerbeteiligungen sind in einer repräsentativen Demokratie ein Problem. Wie können die freien Mandate von gewählten Vertreterinnen und Vertretern mit dem zusätzlichen demokratischen Mittel der online-Bürgerbeteiligung zusammen gedacht werden – zumal, wenn nicht alle Bürgerinnen und Bürger online sind?

Nun, alle BürgerInnen haben grundsätzlich Zugang zu Online-Verfahren, mindestens so zugänglich wie zu analogen Konsultationen. MandatsträgerInnen sollten die neuen Möglichkeiten zur Ausbildung ihrer Positionen als parlamentarische VolksvertreterInnen zum Vorteil bei der Problemanalyse und als Nahrung für Lösungskompetenz schätzen lernen. Gleichzeitig versichern sie durch Begründung ihrer Entscheidungsfindung als Rückkopplung in das Beteiligungsverfahren die Glaubwürdigkeit als PoltikerIn, die uns zu oft verloren gegangen ist.

Zum Schluss noch eine ganz konkrete Frage: Wenn Sie sich ein Projekt wünschen könnten, wie würde dieses dann aussehen?

Ich arbeite an Online-Beteiligungsverfahren, die auf mobilen Endgeräten wie Smartphones und Tablets als georeferenziertes Initiativsystem angelegt sind. Anders als bei „Mängelmeldern“ sind hier Ideen für „Weltverbesserung“ gefragt, die auf ein komplexes Backend von Verwaltungsresonanzen stößt. Kern sind ein schneller Reaktionstakt und ein angestoßener Vorgang, der öffentlich dargestellt und diskutiert wird.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Erik Flügge.

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