von Pavlos Wacker*
Wie wir die Zukunftschancen einer ganzen Generation verspielen
Wussten Sie/Du, dass die Generation der unter 25-Jährigen laut Studien am stärksten von den Corona-Maßnahmen betroffen ist? Nein? Das ist nicht weiter verwunderlich. Woher denn auch? Neun Milliarden für die Lufthansa, aber kein Geld für Luftfilter an Schulen? Wirtschaftshilfen im dreistelligen Milliardenbereich, aber keinerlei Unterstützung für Studierende? Expertenkommissionen für die Pflege, aber alleingelassene Kitas? Wir verlieren und vergessen gerade eine komplette Generation.
Die meisten und tiefgreifendsten Lebensentscheidungen werden vor dem 25. Lebensjahr getroffen. Auf welche Schule gehe ich? Welchen Abschluss mache ich? Will ich studieren? Wo geht es nachher beruflich für mich hin? Möchte ich in meiner Heimat bleiben, oder zieht es mich in eine andere Stadt? Es ist jedoch nicht nur die Zeit zahlreicher Entscheidungen, es ist auch die Zeit zahlreicher Erfahrungen: der erste Kuss, die ersten Dummheiten, das erste Mal Verantwortung übernehmen, die erste Auslandsreise, die ersten Partys, ernsthafte Freundschaften. Doch Corona setzt eine ganze Generation in den Stand-By-Modus.
Das private und gesellschaftliche Leben ist auf ein Minimum heruntergefahren (worden). Doch für junge Menschen geht in dieser Zeit nicht nur der soziale Bereich weitgehend verloren. Auch andere Lebensbereiche sind massiv von den Corona-Einschränkungen betroffen: Schulen sind geschlossen, Ausbildungsbetriebe fahren ihre Kapazitäten runter, Studierende sind im Online-Semester. Eine ganze Generation befindet sich seit nunmehr fast einem Jahr überwiegend in gesellschaftlicher Isolation. Die Zukunft ungewiss. Der Ausbildungsplatz unsicher, das Studium wertlos, Schulabschlüsse vielleicht doch nicht dieses Jahr?
Verstehen Sie/Du mich nicht falsch: Es ist richtig, wichtig und notwendig, dass wir das Infektionsgeschehens in den Griff bekommen. Dafür nehmen wir alle erhebliche Grundrechtseingriffe in Kauf – und das ist gut so. Denn dieses Virus und die damit verbundene Krankheit sind verdammt gefährlich. Es ist tödlich. Doch es ist schon bemerkenswert, wie wir insbesondere die U25-Generation enorm belasten und sie dennoch fast vollständig aus dem politischen Bewusstsein verschwunden ist.
Schulen sind kein Ikea-Småland
Insbesondere beim Thema Schulschließung wird deutlich, wie wenig Sensibilität wir für das Thema Bildung aufbringen. Die umstrittenen Diskussionen über potentielle Schulschließungen wurden vor allem vor dem Hintergrund geführt, dass wir ja dann ein potentielles Betreuungsproblem bekämen. Als seien Schulen ein besseres Ikea-Småland, wo man Kinder morgens hinbringt, um sie nach den Erledigungen wieder abzuholen. Was ein vollkommen absurdes Bild wird hier – vor allem von den Kultusministerien – gezeichnet? Schule ist mehr als Betreuung! Es geht hier um das Grund-, Kinder- und Menschenrecht auf gute Bildung. Völlig untergegangen sind in den öffentlichen Debatten jedoch die enormen Auswirkungen von Schulschließungen auf die Bildungsbiographie von Kindern. Es sagt sehr viel über den Stellenwert von Bildung aus, dass in den Expertengremien der Bundesregierung kein*e einzige*r Bildungswissenschaftler*in oder Pädagog*in vertreten ist und war. Leider sind die Versäumnisse auch auf Kitas übertragbar.
Dabei hätte es Lösungen gegeben: Wechselunterricht, erweiterte Gebäude anmieten, das Installieren von Luftfiltern, das Ausstatten der Schulen mit Schutzausrüstung. Doch das kostet natürlich Geld. Und leider sind kleine Kinder keine Lufthansa-Maschinen. Denn dann hätten auch die Schulen und Kitas vielleicht neun Milliarden Euro an staatlichen Steuergeldern geschenkt bekommen. Und bevor jetzt wieder die Arbeitsplatzkeule kommt: Natürlich muss – vor allem kleinen – Unternehmen und Selbstständigen wirtschaftlich geholfen werden, diese Krise zu meistern, doch darf sehr wohl die Frage gestellt werden, warum wir Milliarden in Industrie und Wirtschaft pumpen, gleichzeitig aber kein Geld für Luftfilter und Schutzausrüstung an Schulen übrig hatten. Am Ende ist Geld eben immer auch eine Frage politischer Prioritäten. Und zumindest beim Thema Kita und Schule ist klar, wo diese Prioritäten lagen und liegen.
Einbahnstraße Zukunft
Ähnlich verhält es sich beim Thema Ausbildung und Studium. Es stand für die meisten politischen Entscheidungsträger*innen überhaupt nicht in Frage, dass die Universitäten und Hochschulen einfach geschlossen werden. Seit fast einem Jahr „lernen“ die meisten Studierenden nur noch digital. Kein Austausch mit anderen Kommiliton*innen, kein soziales Lernen in der Gruppe, kein gemeinsamer Mensa-Besuch. Zahlreiche Studienanfänger wissen noch nicht einmal, wie ihre Professor*innen und Lehrende aussehen. Man darf sich ruhig mal in die Lage eines Studierenden hineinversetzen, der oder die seit einem Jahr in einem kleinen Wohnheimzimmer auf ihren Bildschirm starrt. Denn nach Hauser darf man nicht so ohne weiteres. Die aktuellen Kontaktbeschränkungen zahlreicher Länder erlauben nur den Besuch einer einzigen Person. Geschwisterkind? Keine Chance. Resultat? Isolation. Ganz zu schweigen von den enormen finanziellen Einbußen zahlreicher Studierender, die wegen Corona ihren Nebenjob verloren haben.
Die Situation zahlreicher Azubis sieht nicht viel besser aus. Zwar bilden die meisten Betriebe weiter aus, doch haben zahlreiche Unternehmen ihre Kapazitäten runtergefahren. Ausbildungsangebote wurden zurückgezogen, Übernahmegarantien ebenfalls. Auch für Azubis gab es kaum nennenswerte Förderungen. Während das Bundesbildungsministerium noch die Frechheit besaß, Studierenden einen Kredit anzubieten, gingen viele Azubis völlig leer aus. Die Förderungen richteten sich – welch Wunder – wieder nur an Unternehmen.
Das Wort des Jahres: Solidarität
Diese Punkte sollen jedoch nicht als Argument missbraucht werden, um die Corona- Maßnahmen wieder aufzuheben. Im Gegenteil. Es geht hier lediglich darum einen aktuellen Einblick in die Lebenswirklichkeit junger Menschen zu geben. Und natürlich gibt es zahlreiche Personengruppen, denen es deutlich schlechter geht: Alleinerziehende, Obdachlose, Arbeitslose… Aber es geht einer Person, der es schlecht geht, nicht automatisch deswegen besser, weil es einer anderen Person noch schlechter geht.
Es gibt noch einen weiteren Punkt, der sehr eindrücklich zeigt, wie wir die Generation der U25 gerne die Verantwortung nehmen, während wir sie gleichzeitig politisch marginalisieren. Als sich im letzten Jahr die Situation in der Pandemie verschärfte, waren sich Politikerinnen und Politiker landauf, landab einig, an die „junge Generation“ appellieren zu müssen, sich bitte an die Maßnahmen zu halten. Besonders jungen Menschen wurde vorgeworfen, das Virus auf die leichte Schulter zu nehmen und die Beschränkungen auszureizen. Sogar die Kanzlerin richtete sich an diese „Jugend“. Dabei gab es zu diesem Zeitpunkt keinen einzigen wissenschaftlichen Beleg dafür, dass das Infektionsgeschehen primär von jungen Menschen ausgeht.
Es war eine Annahme, mehr nicht. Als dann eine wissenschaftliche Erhebung im Oktober ergab, dass sich über 82 % der Jugendlichen an alle Corona-Maßnahmen hielten und über 89 % den Schutz ihrer Mitmenschen für wichtig erachten, verstummten die politischen Appelle plötzlich. Ohne Entschuldigung versteht sich. Symbolpolitik kann anstrengend sein.
Dabei ist ein Fakt offenkundig. Was hier gerade eine ganze Generation leistet, ist gelebte Solidarität. Denn junge Menschen müssen in der Regel keinen tödlichen Corona-Verlauf fürchten. Zumindest statistisch betrachtet. Sie halten sich jedoch trotzdem an die Maßnahmen. Sie befolgen alle Regeln und werden dafür sogar noch übermäßig stark belastet. Und das alles, um ältere Mitmenschen zu schützen. Solidarität in Reinform. Wir reden gerne und viel über den Solidaritätsbegriff, aber anscheinend nur, wenn es uns opportun erscheint.
Was bleibt ist die Erkenntnis, dass in der aktuellen Pandemie die Zukunftschancen und Bildungsbiografien einer ganzen Generation leichtfertig und politisch verantwortungslos verspielt werden. Das wird sich auf lange Sicht rächen. Vielleicht nicht Heute. Vielleicht nicht Morgen. Und wahrscheinlich auch nicht an der Wahlurne. Doch die politischen Entscheidungsträger wären gut beraten, diese vergessene Generation wieder ins politische Bewusstsein zu holen. Sonst werden wir sie verlieren.
*Pavlos Wacker hat Politik-, Bildungswissenschaften und Bildungsmanagement an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg studiert. Er ist systemischer Moderator und war von 2019 bis 2020 Landesvorsitzender der Jusos Baden- Württemberg. Den Einstieg in die politische Bildungsarbeit fand Pavlos Wacker in der kommunalen Kinder-, Jugend- und Bürgerbeteiligung. Seither beschäftigt er sich kritisch mit den Themen Generationengerechtigkeit, Bildung und Jugend und ist Autor zahlreicher Beiträge zu diesen Themen. Er ist zudem Mitbegründer und Initiator des landesweiten Aktionsbündnisses #altgenug zur Absetzung des Wahlalters.